R. Hugener: Buchführung für die Ewigkeit

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Titel
Buchführung für die Ewigkeit. Totengedenken, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter


Autor(en)
Hugener, Rainer
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gassmann Guido, Kriens

Das Totengedenken ist eines der ältesten Kulturformen der Menschheitsgeschichte und gehört daher zu den frühesten Anwendungsbereichen von Schrift. Kirchen und Klöster wurden im Mittelalter zu lukrativen Partnern in der Heilsvorsorge, was sich unter anderem in Ordenseintritten, Einpfründungen und in Stiftungen, die mit einer Gedenkleistung verknüpft waren, niederschlug. Schriftliche Zeugnisse des Totengedenkens entwickelten sich von einfachen Nekrologen bis hin zu Jahrzeitbüchern mit differenzierten liturgischen und wirtschaftlichadministrativen Notizen. Rainer Hugener verfolgt in seiner Dissertation drei Hauptziele: Er beschreibt den Verschriftlichungsprozess (Entstehung, Entwicklung und Verbreitung) der Gedenküberlieferung im Spätmittelalter und fragt zweitens, wie deren Methoden die weltliche Güterverwaltung prägten. Schliesslich wird dargelegt, welche Vorstellungen und Deutungen über die Vergangenheit im Rahmen des Totengedenkens propagiert wurden. Als Quellenmaterial dienen primär einzelne beispielhafte Nekrologien und Jahrzeitbücher aus dem Gebiet der heutigen Schweiz. Zeitlich bewegen sich die beschriebenen Prozesse vom 12. bis 16. Jahrhundert. Nach Ortschaften geordnet findet sich im Anhang eine wertvolle Zusammenstellung aller Quellen über die Gedenkaufzeichnung im vorgegebenen geographischen Raum.

Allein schon der Einleitungsteil ist lesenswert, da er einen wertvollen Überblick über den heutigen Forschungsstand des Themas wiedergibt und für das Verständnis entscheidende Begrifflichkeiten klärt, die in der Literatur oft unpassend verwendet werden.

Das zweite Kapitel zeichnet die Entwicklungslinien vom Martyrologium über die Verbrüderungsbücher und Nekrologien bis zu den Jahrzeitbüchern, wobei Rainer Hugener betont, dass die Unterschiede dieser Gattungen hinsichtlich der Funktion, Gebrauch und der Gestaltung oft fliessend sind. Die Veränderungen der Gedenkaufzeichnungen bis zum Spätmittelalter korrespondierten mit einer Verlagerung des Gedenkwesens von den Klöstern zu den örtlichen Pfarrkirchen und Spitälern. Die kommunalen Körperschaften gewannen in dieser Zeit an politischer Stärke und konstituierten sich nun als Sakralgemeinschaften, die für die liturgischen Verpflichtungen und die damit verbundene Administration ein eigenes Jahrzeitbuch anlegten. Durch die Möglichkeit der Seelgerätstiftungen erhielt das Totengedenken einen individuellen Charakter. Es wurde zum Massenphänomen, an dem alle sozialen Schichten Anteil hatten (112). Nur am Rande wird die Frage angegangen, welche religiösen Vorstellun¬gen hinter dem Gedenkwesen standen und wie sie diesen Prozess prägten.

Die Kapitel 3 und 4 legen den Fokus auf Intertextualitätsbeziehungen und Überlieferungszusammenhänge zwischen Aufzeichnungen von Totengedenken und Administration bzw. Geschichtskultur. Für das erstere werden drei konkrete Beispiele aus St. Gallen, Hermetschwil und Beromünster herangezogen. Das Totengedenken stand in diesen Klöstern am Anfang von Verschriftlichungsschüben und beeinflusste die späteren administrativen Methoden der Güterverwaltung. Die zunehmend ausdifferenzierte Buchführung wurde nötig, um Streitigkeiten und Unklarheiten zu vermeiden. Wurden vorerst in Nekrologen Randnotizen angefügt (St. Gallen), entstanden bald eigene Verzeichnisse, Rödel und Urbarien (Hermetschwil, Beromünster). Entgegen herkömmlicher Unterteilung zwischen sakralem und profanem Schrifttum wird hier nachgewiesen, dass das liturgische und ökonomische Schriftgut damals einer einheitlichen Konzeption folgte (155).

Die Nekrologien und Jahrzeitbücher enthielten von Beginn weg historiographische Aufzeichnungen, die an den entsprechenden Tagen vorgelesen wurden. Diese Form des liturgischen Gedenkens, welches in der Regel von der politischen Führung beauftragt wurde, prägte wesentlich die Deutung der Vergangenheit. Durch Armenspendung wurden alle sozialen Gruppen, selbst die ärmsten Schichten, für diese Anlässe mobilisiert. Anhand der Analyse der Gedenkpraktiken in Bern wird ersichtlich, wie entscheidend dessen Befreiungstraditionen und dessen Abwehrkampf gegen die Habsburgerherrschaft für das Geschichtsverständnis der Innerschweiz und der gesamten Eidgenossenschaft wurden. Die antihabsburgische Haltung kristallisierte sich auch im Rahmen der Gedenkfeiern nach der Schlacht bei Sempach 1386. In den ehemals habsburgischen Regionen der Kantone Aargau und Luzern galten diese Anlässe zum Gedenken der Gefallenen auf Habsburger Seite. Die Obrigkeit versuchte – manchenorts sogar vergeblich – hier ein proeidgenössisches bzw. antihabsburgisches Gepräge zu geben. Eindrücklich wird anhand der Ge-denküberlieferung geschildert, wie die Mechanismen im Kampf um die Deutungshoheit der Geschichte funktionierten. Gezielt waren die Schlachtfeiern an wich-tigen kirchlichen Feiertagen angesetzt, womit die eigene Vergangenheit in das göttliche Heilsgeschehen integriert wurde. Durch die Einbindung der politischen Vergangenheit in die liturgische Praxis gewannen die Legenden um die Entstehung der Eidgenossenschaft eine sakrale Aura. Dies erklärt wohl, weshalb deren Anzweiflung bis heute als Sakrileg empfunden wird. Gerade dieser Teil macht diese Dissertation zu einem wichtigen und spannenden Beitrag zur Schweizer Geschichte. Zudem wird klargestellt, dass in der Gedenküberlieferung eine hohe sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aussagekraft verborgen ist.

Zitierweise:
Guido Gassmann: Rezension zu: Rainer Hugener, Buchführung für die Ewigkeit – Totengedenken, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Zürich, Chronos Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 491-492.